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Wie die Indianer zu Gesang, Tanz und Musik kamen


Ein Märchen der Indios

Lange zerbrach sich Kajurukre, der alles Nützliche brachte, den Kopf, wie er den Indianern die Langeweile erträglicher machen könne. Es mangelte ihnen an nichts, doch allzuoft saßen sie vor ihren Behausungen, wechselten kaum ein Wort miteinander, und ein Tag verging wie der andere. Die Vögel dagegen sangen Tag und Nacht und zwitscherten und schwatzten, dass einem davon das Herz übergehen konnte.
Da begann Kajurukre eines Tages damit, den Indianern Geang und Musik ans Herz zu legen. Aber so sehr er sich auch bemühte, die Indianer antworteten immer wieder schwerfällig: „Sind wir denn Vögel? Die Fische hört man doch auch nicht und es geht ihnen gut!“
Kajurukre sah, dass er so nichts ausrichten konnte und ging noch am gleichen Tag in den Urwald, in der Hoffnung, dass ihm dort jemand einen guten Rat geben würde. Er lief und lief, kreuz und quer, beobachtete die Affen, die Papageien und die Schmetterlinge, aber ihre Unterhaltungen waren für die Menschen nicht geeignet.
Und dann fand er einen Ort, an den er nie zuvor gelangt war. Der Boden war ausgetreten wie auf einem Dorfplatz. Anstelle von Hütten standen rundum alte Bäume. Auf der Erde lagen übereinander geworfene Äste und Zweige. Und als von den Bäumen plötzlich herrlicher Gesang erklang erhoben sich die Äste und Zweige, sprangen, hüpften und tanzten schneller und immer schneller und bevor er sich dessen recht bewusst wurde zogen sie auch ihn, Kajurukre, in ihren Reigen.
Maracas (Mexico) Kajurukre wusste nicht, wie er getanzt hatte, aber als die Zweige und die Äste müde wurden und der Gesang von den Bäumen verstummte rief er: „Das ist das Richtige für die Indianer!“ Dann nahm er ein paar in der Nähe liegende Zweige und ging heimwärts. Er freute sich darauf, noch einmal zu sehen, wie die wunderlichen Zweige ihr Wesen treiben und die Indianer jauchzen und tanzen würden.
Aber ach, als die Indianer auf dem Dorfplatz versammelt waren und er die Zweige übereinander legte blieb alles still - kein einziger Ton war zu hören. Er konnte die Zweige legen und schichten wie er wollte, er hatte keinen Erfolg. Die Indianer lachten ihn aus und gingen in ihre Hütten. Kajurukre stand noch eine Weile in Gedanken versunken da, dann nahm er die Zweige und ging wieder in den Urwald. Er musste dem Geheimnis auf die Spur kommen, denn ohne Musik und Gesang konnte es auch keine Tänze geben.
Er legte die Zweige an ihren Platz zurück und versteckte sich in der Nähe, damit die Äste und Zweige ihn nicht in ihren Reigen zu ziehen vermochten und er unbeobachtet verfolgen konnte, woher Musik und Gesang kamen.
Bis zur Abenddämmerung musste er warten. Da vernahm er wieder die bekannte Melodie. Und kaum hatten die Zweige zu tanzen begonnen lief er weiter und weiter in den dunklen Urwald hinein ‒ bis er einen kleinen Hügel sah. Als er näher kam sah er, dass es ein Termitenhügel war, und auf diesem tanzte ein großer Ameisenfresser. An einem Vorderbein hatte er eine Rassel, am anderen eine Pfeife, und vor ihm stand eine Trommel. Er pustete in die Pfeife, rasselte mit der Rassel und sang dabei aus voller Kehle:

„Ich musiziere, tanze, singe,
pfeife, trommle, hüpfe, springe,
und mit mir tanzt der ganze Wald,
in wilden Tänzen, jung und alt.“

Kajurukre erklomm geschwind einen Baum, denn schon wollten seine Beine hüpfen und springen. Auf dem Baum musste er lange warten, der Ameisenfresser schien nicht müde werden zu wollen. Als er aber endlich, um sich zu stärken, seine Pfoten in den Termitenhügel steckte, erblickte er Kajurukre.
„Was machst Du denn hier?“ fuhr er ihn an, den Mund voller Ameisen und deren Eier. „Noch nie hat jemand außer mir diesen Ort betreten!“ ‒ „Wie Du siehst habe ich ihn auch gefunden“, lachte Kajurukre. Als er aber sah, dass das zottige Tier seine Instrumente zusammenraffte fuhr er gleich fort: „Mir gefallen dein Gesang und deine Musik. Willst Du mich nicht beides lehren, damit sich auch die Indianer daran erfreuen können?“
Der Ameisenfresser schüttelte den Kopf: „Das mache ich nicht, denn mein Gesang und meine Musik sind alles, was ich besitze. Ihr Indianer verfolgt uns Ameisenfresser doch mit euren Pfeilen und Speeren. Wie viele meiner Schwestern und Brüder mussten schon ihr Leben geben, weil wir zu plump und deshalb zu langsam sind. Und dafür sollte ich euch noch tanzen und singen lehren? Nein, das mache ich nicht!“
Kajurukre antwortete nicht gleich - wusste er doch, dass der Ameisenfresser die Wahrheit sprach. Schließlich hatte er aber einen guten Einfall: „Und wenn ich verspreche, dass wir Dich nie mehr verfolgen werden?“ Da ließ sich der Ameisenfresser erweichen. „Also gut“, sagte er, „komm her!“
Und die Morgendämmerung hatte noch nicht die Dunkelheit des Urwaldes durchbrochen, da kannte Kajurukre schon alle Lieder und Tänze - Lieder und Tänze zur Hochzeit und zur Jagd, Lieder und Tänze zum Geburtstag, Lieder und Tänze für andere Freudenfeste und auch die Gesänge für die Begräbnisse, kurz alles, was die Indianer brauchten.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die dichten Zweige der hohen Bäume brachen lenkten Kajurukre und der Ameisenfresser ihre Schritte ins Dorf. Und als sie den Dorfplatz erreichten und mit Pfeife, Rassel und Trommel zu musizieren begannen, eilten die Indianer aus ihren Hütten und schon balden tanzten alle im fröhlichen Reigen. Der Tanz war erst zu Ende, als alle todmüde zur Erde fielen. Aber Ruhe gab es nur für kurze Zeit. Denn im Indianerland vertrieben Musik, Tanz und Gesang fortan alle Langeweile - und kein Tag verging wie der andere.
Seit jenem Tag, an dem Kajurukre und der Ameisenfresser den fröhlichen Reigen eröffneten, verehren die Indianer auch den Ameisenfresser. Niemals mehr kam es ihnen in den Sinn, ihm Schaden zuzufügen.